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Die Höhle
Angst. Namenlose Angst. Anfangs hielt sie sich leicht über mich gebeugt. Mit der Zeit lernte sie, wie sie mich zur Verzweiflung brachte. Schwer presste sie sich auf mich, drückte mir die Augen zu, kroch mir in Mund und Nase und schnürte mir den Atem ab. Sie setzte sich mir auf die Brust, auf Arme und Beine und verbot mir, mich zu bewegen.
Kurz vor dem Ersticken bäumte sich mein Körper auf, ich schrie. Sand und Erde spürte ich im Rachen, ich würgte sie aus. Dämmerlicht nahm ich wahr, mein Bewusstsein kehrte zurück. Mein Körper fühlte sich geschunden an, Verletzungen stellte ich aber nicht fest. Die Erkenntnis über meine Umgebung jedoch versetzte mir einen bodenlosen Schrecken. Bodenlos? Vor Glück durfte ich reden, nicht noch tiefer gestürzt zu sein! Der Schacht setzte sich nach unten unendlich weit fort.
Ich bin keine Heldin. In meine Lage hatte mich mein Bestreben gebracht, als Hobbyarchäologin einen Erfolg vorzuweisen, ein einziges Mal nur in der Presse namentlich genannt zu werden. Immer war ich verlacht worden als die, die Sagen nachjagte und in Märchen abtauchte. Zwar berichteten jene von Schätzen, die hier draußen vergraben sein sollten, aber darauf gab ich nichts. Mir hatte es einfach das Erdloch angetan, das ich erforschen und über das ich berichten wollte.
»Licht!« schrie ich. Immer wieder. Bis mir einfiel, dass ich allein war.
Der natürliche Schlot, in den ich gestiegen war, wies eine Engstelle auf. Als ich mich dort hindurch wand, zerbrach oben das Gestänge. Durch den Ruck hatte sich wohl meine Kletterleine losgerissen. Jedenfalls stürzte ich ab und sah den Karabinerhaken am Seilende mir nachfallen und, als ich auf dem Vorsprung aufprallte, an mir vorbeistürzen, soweit die Leine ihm erlaubte. Meine Lampe fiel hinterher. Die Rufe meiner Kameraden »Wir holen Hilfe!« ermunterten mich nicht.
»Warum wir?«, schrie es in mir, »sollte nicht einer an meinem Einstieg bleiben?«
Langsam wurde mir klar, dass ich auf mich selbst gestellt war. Ich lag auf dem Rücken, stemmte mich auf die Ellbogen. Ich wollte mich aufsetzen, doch stieß meine Stirn an die Decke meines Gefängnisses.
»Die Leine«, fiel es mir ein, »die brauchst du noch.« Instinktiv drehte ich mich auf den Bauch und zog Hand über Hand das lose Seil ein und legte es in ordentlichen Schlingen ab.
»Wozu ist es dir nütze?« meldete sich mein Unterbewusstsein, »nach oben kannst es nicht werfen.«
Da war sie wieder, die Angst! Zur Untätigkeit wollte sie mich verdammen, mir jeden Gedanken an Rettung nehmen.
»Und wenn ich schon wanderte im finsteren Tal …«
Gläubig war ich gewiss nicht, aber nun spendeten mir die spontan gemurmelten Worte Zuversicht. Ich konnte doch etwas tun! Langsam tastete ich meine Umgebung ab. Meine Füße offenbarten mir einen Tunnel, der von dem Vorsprung sich waagrecht in der Wand fortsetzte. Umdrehen konnte ich mich nicht, unweigerlich wäre ich von dem winzigen Sockel gestürzt. Rücklings zog ich mich mit den Fersen in die Röhre, stets bedacht, bei einem Hindernis nicht in Panik zu verfallen. Je weiter ich eindrang, desto dunkler wurde es. Nach mehreren Körperlängen fühlten meine Hände ein Ansteigen der Decke, irgendwann konnte ich mich aufrichten. Meine Erleichterung schwand schnell, als mir bewusst wurde, dass eine im Dunkel unsichtbare Spalte mich so umso leichter verschlingen konnte. Spontan ließ ich mich auf alle Viere fallen und betastete jede Handbreit, bevor ich mich vorwärtswagte. Meine Finger griffen etwas Rundes. Ich befühlte die Scheibe, führte sie an meine Zähne und erkannte sie an ihrer Festigkeit und dem flachen Relief, das ich ertastete, als Münze. Ein Schatz! Woran ich nicht geglaubt hatte, bot sich mir aus freien Stücken. Es musste der Schatz aus den Sagen sein, zumal ich weitere Münzen fand und etwas Geschmeide. Alles schob ich in meine Taschen. Euphorie trieb mich tiefer in die Finsternis.
So weit vom Schlot entfernt umschloss mich vollkommene Schwärze. Ob es Einbildung war oder ob wirklich jemand im Flüsterton zu mir sprach, war mir unmöglich festzustellen.
»Willkommen«, vermeinte ich zu hören, »seit Langem hat uns niemand besucht.«
Sicherlich spielte mir meine Fantasie einen Streich. Oder führte ich ein Selbstgespräch mit verteilten Rollen?
»Wo bin ich? Wer seid ihr?« hörte ich mich fragen. Statt einer Antwort glaubte ich, eine Hand um meinen Arm zu spüren, die mich noch oben zog. Ich folgte und verspürte den unnachgiebigen Drang, weiter in die Höhle vorzustoßen, fort von dem letzten Bisschen Licht, das das Ende meiner Röhre als graue Scheibe erahnen ließ. Etwas zog mich, so wie jemand mit Höhenangst in den Abgrund starrt und sich hinab gesogen fühlt, beseelt von der Vorstellung springen zu müssen.
Weitere Stimmen drängten sich meiner Einbildung auf.
»Komm weiter«, übersetzte mein Unterbewusstsein, »du bist in Sicherheit.«
Echo erklang. Also war die Höhle weit, aber endlich. Etwas trieb mich weiter. Das Echo verstummte. Ich befand mich in einem Gang, konnte mit ausgestreckten Armen beide Wände berühren. Unter meinen Sohlen knirschte es. Von dort glaubte ich ein Wehklagen zu hören. Ich ging in die Hocke, meine Hand fuhr über den Boden. Panisch zog ich sie zurück, ich hatte Knochen berührt.
»Komm weiter«, verlangte der Führer meines Unterbewusstseins, »pass auf deinen Weg auf! Die Vergangenheit fühlt Schmerz, wenn du ihre Reste zertrittst.«
»Wohin führst du mich?«
»Zu einer Erkenntnis, die sich euch Lebenden selten offenbart. Ihr kümmert euch nur um euer Jetzt oder sorgt euch um eure Zukunft. Ihr vernachlässigt eure Seele und vergesst. Hier erlangst du die Erinnerung wieder.«
Ungezählten Windungen folgte ich dem Gang und meinem Gefühl. Die Angst fiel von mir ab, Beruhigung und Neugier erfüllten mich, dazu ein nie so intensiv gespürter innerer Frieden. Kindheitserinnerungen stiegen auf, mein Toben auf der Wiese nahm ich ebenso mit den Augen wahr, wie ich den frischen Wind spürte, der mich mit dem Duft von Blumen und Wald umspülte. Meine Eltern, gestorben schon vor Jahren, saßen auf einer Picknickdecke. Ich war wieder das Mädchen, das unbeschwert das Leben genoss. Als ich den Blick hob, fand ich mich in einer riesigen Höhle. Ich folgte meinen Eltern bis in die Menge von Schemen, die sich als frühere Bekannte zu erkennen gaben. Über die Zeit hatte ich sie zum Teil schmerzlich aus den Augen verloren. Alles schien grau. Dennoch trübte die Eintönigkeit meine Freude keineswegs, sah ich doch eine bunte Welt, sobald ich die Augen schloss, und die Wiedersehensfreude überlagerte jedes Unbehagen.
»Bianca! Hörst du uns?« Dumpf klangen die Worte. Nach Ewigkeiten begriff ich ihre Bedeutung. Meine Kameraden waren zurückgekehrt, um mich hinauf zu holen. Aus der Dunkelheit zurück ins Licht!
»Kommst du wieder?« hörte ich meine Mutter fragen. Ich schluckte. Schon hatte ich mich umgedreht und hastete der Röhre entgegen, die mich zum Schlot geleitete.
»Ich bin noch hier. Es geht mir gut.«
»Wir lassen dir ein Sicherungsgeschirr herab und ziehen dich hoch. Beeil dich, die Schachtwand bröckelt schon! Lang hält sie nicht mehr, dann bricht der Schacht ein. Brauchst du noch etwas?«
»Mehr Licht«, schrie ich, »nur mehr Licht!«
Schon hörte ich die Schnallen an den Wänden schaben, sah das Riemengeschirr. Dankbar lächelte ich. Dann fuhren meine Hände in meine Taschen, zogen Münzen und Schmuck hervor und ließen sie zusammen mit den von oben herabfallenden Steinen und Erdbrocken in den Abgrund rieseln. Ich band die Taschenlampe vom Seil und tastete mich in die Höhle zurück. In meine Vergangenheit.
Ba-Ba-Banküberfall
Unter 141 Teilnehmern am Schreibwettbewerb stahlen sich die Bankräuber in die Anthologie des Verlags Textgemeinschaft und räumten gleich noch einen Sachpreis ab!
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Retourkutsche
Heute Abend kann den Gruber Sepp keiner leiden.
Erst war der am Morgen ausgerastet, als der Greindl Max mit seinem Traktorgespann beim Rangieren auf der schmalen Straße zwischen ihren beiden Höfen den Pfosten vor der Hofeinfahrt rammte und dabei das Ventil des Jauchewagens abbrach. Zwei Kubikmeter Gülle verteilten sich über den Gruberhof und flossen bis zur Haustür.
Der Greindl fühlt sich von seinem Nachbarn zu Unrecht angegriffen wegen des eben von ihm zum Besten gegebenen Vorfalls mit dem Güllewagen. Wozu die Aufregung? Das kann schließlich jedem passieren! Und über den Gruber und seinen Hof rümpft er sowieso ständig die Nase.
Er beklagt sich weiter bei seiner Stammtischrunde.
»Und dann hot er mei Resi ausg´schumpfa!«
»Was hat er?« hakt Hinnerk nach. Der Apotheker ist erst kürzlich aus dem hohen Norden nach Haimhausen nördlich von München zugezogen.
»Mei Resi hat er aus´g… Er hat. Meine Tochter. Resi. Beschimpft.« Das Stakkato in Greindls Sprache kommt nicht von den vier Hefeweizen, die er wie jeder der Stammtischbrüder schon genossen hat. Er klingt immer so, wenn er nach der Schrift redet. »Weil sie seinem Knecht schöne Augen macht. Der Saupreiß, der damische!«
»Ich denke, der Gruber ist hier geboren und hat den Hof von seinem Vater geerbt.« Hinnerks Stimme zittert leicht vor Unsicherheit.
»A Preiß … ein Preuße ist er wirklich nicht, aber ein Saupreiß, ein damischer!«
Die Glaskrüge klirren aneinander, die wenigen Gäste drehen überrascht ihre Köpfe zu der Viererrunde herüber, die sich vor Lachen schüttelt.
Dass der Gruber mit seinem Vorwurf Recht hat, weil Resi auf diese Weise den Knecht nicht nur von der Arbeit abhält, sondern auch in Gefahr bringt, behält der Greindl lieber für sich. Als Resi das letzte Mal vor Matthias, dem Knecht, herumtänzelte, hatte der sich beim Dengeln vor lauter Ablenkung an der Sense geschnitten.
»Resi, bring deinem Vater und uns noch ´ne Runde von der Gerstenkaltschale«, ruft Hinnerk der Greindl Resi zu, als die mit einem leeren Tablett durch den Gastraum der Haimhausener Schlosswirtschaft schwebt. Er kichert über seine nicht so ganz zutreffende Wortwahl. Als Resi ihn verdutzt anschaut, legt er nach: »Na, von dem Hopfentee.«
Gruber gibt für den Rest des Abends genug Gesprächsstoff her, sodass die vier gar nicht aufbrechen müssten, würde der Wirt nicht irgendwann seine Gäste hinauskomplimentieren.
»Ich hab´ da eine Idee«, nimmt Hinnerk in der Tür den Faden wieder auf und nuschelt, »da ist doch die Baustelle für die neue Umgehungsstraße. Wir kommen auf dem Heimweg sowieso daran vorbei …«
Greindl liegt auf dem Rücken. Er kann nichts sehen. Hat man ihm die Augen verbunden? Er muss auf einem Ochsenkarren liegen, der über einen holprigen Weg zockelt, so schüttelt es ihn durch.
»Maximilian! Maximilian!«
Die Stimme reißt ihn nicht abrupt aus seinem Traum, sondern zieht ihn langsam in die Wirklichkeit zurück. Er erkennt das heimische Schlafzimmer. Seine Frau kniet neben ihm auf dem Ehebett. Er fühlt sie mehr, als dass er sie in dem Dunkel sieht, weil sie ihn rüttelt, bis er endlich wach ist.
Es ist noch Nacht, wie er durch die zugezogenen Vorhänge erkennen kann. Warum schüttelt sie ihn, und warum schreit sie so? Beinahe hysterisch.
Und da ist dieses Brummen. Es kennt es von vielen Nächten nach einem ausgedehnten Besuch der Schlosswirtschaft mit der ausufernden Stammtischpolitik, die ihm intellektuell oft das Letzte abverlangt. Doch heute ist das Brummen anders. Es schwillt in einem Crescendo an, erreicht einen Höhepunkt, ebbt ab und erwacht von neuem in gleicher Weise. Andauernd. Und noch ein Unterschied: Es kommt von außerhalb seines Schädels.
Der Greindl Max schüttelt seine Frau ab, setzt sich auf, tastet nach seinen Pantoffeln und schleicht zum Fenster. Den Kopf kann er nicht weiter auf sein Normalmaß zusammendrücken, da er eine Hand fortnehmen muss, um die Gardine aufzuziehen. Schlagartig ist er nüchtern.
Fast nur Sekunden später steht er, immer noch in Pantoffeln, zu nachtschlafender Zeit auf dem taufeuchten Hof. Jetzt im Herbst sind die Nächte länger. Seine Kinnlade entwickelt ein Eigenleben und klappt ohne sein bewusstes Zutun herunter. Dass seine Frau ihm den Bademantel über den dünnen Schlafanzug hängt, nimmt er gar nicht wahr. Zu sehr kreisen seine Sinne um den Anblick eines nicht enden wollenden Autokorsos, der sich durch seinen Hof wälzt.
Irgendwann fasst er sich, tut drei, vier Schritte nach vorn und stoppt mit ausgebreiteten Armen das nächste Fahrzeug. Der Fahrer lässt das Seitenfenster herunter, um seinem Unmut über die Sperrung Luft zu machen, besinnt sich ob des einsetzenden Hupkonzerts anders und fährt einfach in einem Bogen um den Greindl Max herum. Der Berufsverkehr folgt ihm, als sei nichts gewesen.
Greindl blickt in die Richtung, aus der die Autoschlange kommt. Auf der anderen Straßenseite lehnt der Gruber Sepp über seinen Zaun gebeugt, schon komplett angezogen. Er grinst zu Greindl herüber und winkt.
»Woas is nacha des?« Greindl schreit es ihm zu, als er den Straßenrand erreicht hat. Der Gruber Sepp zuckt die Schultern, sodass Greindl es wiederholen muss. Er legt die Hände wie einen Trichter um den Mund.
»Waas ist daas?«
Den Gruber schüttelt es vor Lachen.
Greindl sieht ihn etwas rufen. Richtig hören kann er ihn wegen des Verkehrslärms nicht. Er tritt bis auf die Fahrbahn, die Autos weichen mit einem kleinen Schlenker aus. Nun kann er einzelne Brocken verstehen.
»I hob bloß dei Ding da umdraht, du Hirsch, du damischer«, reimt sich Greindl zusammen. »Matthias hat es von deiner Resi erfahren, als sie von ihrer Arbeit in der Wirtschaft noch bei ihm vorbeikam.«
Greindl versteht jetzt seinen ungeliebten Nachbarn. Er hat eine Lücke im Verkehr genutzt, um mit gehetztem Schritt die Straße zu überqueren. Panisch schaut er zurück auf die Fahrbahn, wo eben ein Geländewagen den Hausschuh überfährt, den er bei seinem Lauf eingebüßt hat. Dann folgt sein Blick Grubers ausgestrecktem Arm.
Mit aufgerissenen Augen und offenem Mund starrt er auf das dunkelgelbe Schild, das er selbst in der Nacht mit seinen Zechkumpanen von der Baustelle weggetragen und hier aufgestellt hat. Oh, was haben sie über ihre Gemeinheit gelacht! Der ganze morgendliche Berufsverkehr aus dem Dachauer Hinterland beim Gruberbauern im Hof! Der Greindl Max war vor Kichern kaum in den Schlaf gekommen. Und nun?
Nun zeigt der Pfeil auf seine, Greindls, Hofeinfahrt, und der Schriftzug steht auf dem Kopf: »Umleitung«.
Diese bayrische Provinzposse zum Thema »Umleitung« gäbe eine gute Episode für das königlich-bayrische Amtsgericht ab, die von 1969 bis 1972 ausgestrahlte Vorabendserie. Haimhausen im Norden Münchens und die Schlosswirtschaft gibt es wirklich, Personen und Handlung sind frei erfunden.
Die »Retourkutsche« fuhr im Oktober 2019 auf den 1. Platz des Monatswettbewerbs und in das Jahrbuch des Schreiblustverlags.
Die Babysitterin
Blanker Horror? Oder doch nur ein Albtraum?
»Die Babysitterin« findet sich als Siegergeschichte in den »Schubladengeschichten« des Verlags Textgemeinschaft.
Tod am Frühstückstisch
Als Hedwig aus dem Badezimmer kam und in die Küche trat, hatte sie keinen Blick übrig für die Sauerei, die sich vor ihr ausbreitete. Mit den für ihr Alter typischen kurzen Schritten trippelte sie ohne Umweg zu der altmodischen Chaiselongue, auf der ihr Heinz ausgestreckt lag. Sein linker Unterarm hing schlaff über der Kante, die Hand lag seltsam geknickt auf dem Fliesenboden. Auf ihrem Weg sparte sie die Blutflecke nicht aus, ihre Hausschuhe hinterließen dünne rote Tappen. Sie beugte sich über ihren Mann und fand tatsächlich ein paar Stellen, die nicht besudelt waren. Wie so oft in Kriminalfilmen beobachtet legte sie ihm zwei Finger auf die nicht mehr pulsierende Schlagader an der rechten Halsseite. Nach einer knappen halben Minute richtete sie sich auf und erreichte mit wenigen Schritten die Anrichte, von der sie das Smartphone aufnahm. Sorgsam achtete sie darauf, die blutigen Flecke nicht zu berühren, die von den Fingern ihres Mannes herrührten. Wie er oft genug betont hatte, konnte er mit diesem Wischhandy, wie er es nannte, nichts anfangen. Aber er war ein Mensch, der sich unter keinen Umständen helfen ließ. Das Tastentelefon, das er hatte bedienen können, stand nutzlos in seiner Ladeschale.
»Hallo, Notdienst … mein Name … Mein Mann ist … ich glaube, er …«
Schnellen Schrittes ging sie zum Küchenschrank, griff ihre Tasse und schenkte sich ihren Morgenkaffee ein. Bis der Notarzt in frühestens zehn Minuten eintraf, hätte sie den Kaffee längst getrunken, die Tasse gespült, abgetrocknet und wieder weggestellt. Dass ihr Morgenmantel auseinanderklaffte und ihr Nachthemd schon hochrutschte, als sie sich an den Tisch setzte, machte ihr nichts aus. Keck schlug sie die Beine übereinander. Heinz hätte sie dafür gerügt. In seiner Anwesenheit hatte sie die Füße nebeneinanderzustellen, die Knie keusch aneinandergedrückt. Sitte und Anstand hatte er ihr immer gepredigt.
Ihr Blick wanderte von der fleckigen Morgenzeitung auf dem Boden nun doch durch die ganze Küche, bis er an der Chaiselongue hängenblieb.
»Vierzig Jahre lang hast du mich schikaniert, und besonders schlimm waren die letzten fünf. Seit du in Rente bist. Oder muss ich nun sagen: Warst? Und das alte Möbel deiner Mutter hast du so in der Küche aufgestellt, dass du mich ständig unter Kontrolle hattest und an allem herummäkeln konntest, während du nicht einen Finger krumm gemacht hast.«
»Nicht so viel Salz, du weißt, dass ich das nicht vertrage. Und mach das Essen nicht wieder so scharf! Erst gestern … Du hast wieder das teure Öl gekauft, das billige im Supermarkt hätte es auch getan …«
Hedwig schüttelte den Kopf und verscheuchte seine Stimme, die sie sich bei seinem Anblick eingebildet hatte. Aber sein letzter Satz ließ sie schmunzeln. Ein Gutes hatte seine herrschsüchtige und knausrige Art. Über das kleine Vermögen verfügte sie nun allein und musste sich nichts mehr verbieten. Als Erstes würde sie die Küche …
Sie richtete sich auf und überlegte zum werweißwievielten Male, was sie dem Notarzt und vielleicht später den Polizeibeamten sagen würde.
»Gestern hatte ich beim Spülen die Lieblingstasse meines Mannes angeschlagen. Mit einem Zweikomponentenkleber, er liegt dort in der Schublade der Anrichte, habe ich die Scherben so angeklebt, dass er es nicht bemerken würde. Sonst hätte es ein Donnerwetter gegeben. Aber er hat sich wohl doch an der Kante die Lippe aufgeschnitten. Bei dem heißen Kaffee hat er es sicherlich nicht gleich bemerkt. Und da er künstlicher Bluter war … Hach. Es ist schrecklich!«
Nicht einmal lügen müsste sie. Die Wahrheit, die reine Wahrheit. Und nichts hinzufügen oder weglassen. Doch halt! Drei oder vier Sätze würde sie nicht sagen.
Dass sie vorher in verschiedenen Geschäften vier gleiche Tassen gekauft und daran geübt hatte, wie sie die anschlagen musste, damit genau diese Schnittkante zustande kam. Dass sie ihr Küchenradio unbedingt auf der Anrichte aufstellen musste und das Mobilteil des Telefons sich an der einzigen Steckdose nicht aufladen konnte. Und dass sie sich, nachdem sie Heinz mit Kaffee und Morgenzeitung versorgt hatte, nur deshalb so lange im Bad verschanzte, um ihm nicht doch helfen zu müssen.
Ach ja, das Bad würde sie auch renovieren lassen.
Ihre Tasse durfte nicht herumstehen, wenn gleich der Notarzt klingelte. Schließlich sollte ihr Mann glaubhaft in der Küche allein gewesen sein.
Was hatte sie zu ihrer Tat inspiriert? Öfter schon hatte sie sich ihr Leben als Landkarte vorgestellt, als Wetterkarte. Ihre Kindheit und Jugend waren sonnig gewesen. Auch ihre ersten Jahre mit Heinz. Dass sie keine Kinder bekommen konnte, hatte er ihr nie verziehen. Dunkle Wolken zogen auf und ließen sich nicht wieder vertreiben. Wie das Winterwetter, das sie seit Wochen leid war. Doch vor ein paar Tagen hatte der Wettermann im Fernsehen gebietsweise Aufhellungen vorhergesagt. Sie hatte das so verstanden, dass sie ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen solle.
Erleichtert stand Hedwig auf und trug die Tasse zur Spüle. Sie freute sich auf einen Lebensabend voll Sonnenschein.
Sonnenschein ...
wünsche ich auch Ihnen, liebe Besucherin und lieber Besucher dieser Interentseite. Wenn Sie »Quer Beet ...« fertig gelesen haben, seien Sie gespannt auf mein Fantasy-Buch »Siebenreich - Die letzten Scherben«, die Neuerscheinung vom Juli 2020, denn bis zum nächsten »Quer Beet aufs Treppchen« ist es noch lange hin - bis Juni/Juli 2021!